9. November 1938 – SPD Grafschaft erinnert

Auch in diesem Jahr erinnern wir am 9. November an die Geschehnisse vom November 1938, der sogenannten „Reichskristallnacht“,  und der Folgen, die mit der Ermordung von über 6 Millionen Menschen im Holocaust eine unvorstellbare Dimension an Grausamkeit, Brutalität und Menschverachtung erreichte.

Eine Dimension, die so unbegreiflich ist, dass man sich nur damit auseinandersetzen kann, wenn man sie in Bildern und persönlichen Geschichten erzählt. Diese Erinnerungskultur aufrecht zu erhalten ist eine kollektive Aufgabe, für die Sozialdemokratie mit ihrer 155jährigen Geschichte eine Verpflichtung.

Die Verbrechen der Nazi-Gewaltherrschaft relativieren sich nicht über die Zeit. Egal wann und in welcher Generation, die Leiden der Menschen dürfen nicht vergessen werden und ihre Namen dürfen nicht verblassen.

Udo Klein, SPD Grafschaft

 

Siegfried, Walter, Leo
Liebe Kinder, was hat man Euch nur angetan!

Liebe Leser,

alljährlich schreibt Ihnen Udo Klein anlässlich der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938, der Nacht als überall in Deutschland die Synagogen brannten. Dieses Jahr bat Udo Klein mich, Dieter Bornschlegl, Jahrgang 1956, etwas zum Gedenken hieran zu schreiben. Wie nähert man sich dem Schrecklichen? Ich will es auf eine persönlich-biographische Art versuchen.

Tante Hilde, Jahrgang 1899, begegnete auf der Straße ihrer großen Liebe wieder, einem jüdischen Arzt, und geht auf die andere Straßenseite und verbirgt ihr Gesicht. Es ist die Zeit der Nazidiktatur als die Juden diffamiert, verfolgt und ausgegrenzt wurden und durch Hetze ihre Mitbürger gegen sie aufgebracht wurden – die Zeit der Tötungen sollte folgen. In dieser schwarzen Zeit war die Angst vor den braunen Häschern größer als die Liebe.

Nach dem Krieg lebte bei meiner Tante Hilde der Untermieter Ernst Schmitt, der mir als kleinem Kind die tollsten Phantasiegeschichten erzählte. Ein Auto rettete ihm das Leben und mir die tollen Phantasiegeschichten. Onkel Ernst, wie ich ihn nannte, sagte während der Nazi-Diktatur etwas Kritisches über Hitler, wurde von einem Nazi-Spitzel verpfiffen und landete im KZ Flossenbürg, wo er gequält und misshandelt wurde – dort, wo auch deutsche Generäle von Hitler beseitigt wurden. Er überlebte, weil er Kfz-Mechaniker war und das Auto des Lagerkommandanten reparieren konnte. Er war für das Auto wichtig und nur deshalb ließ man ihn am Leben.

Der Schatten der Familie: Der Familienteil einer Tante, die mit einem ehemaligen SS-Offizier in zweiter Ehe verheiratet war, führte ein nach außen hin gutbürgerlich-konservatives Leben, doch an Hitlers-Geburtstag wurde gefeiert und die nicht erloschene braune Gesinnung kam hervor.

Als junger Mann wurde ich anlässlich eines Offizierslehrgangs in München von einem Verwandten, einem gleichfalls gutbürgerlich-konservativen Oberamtsrat zum Leberkäsessen eingeladen. Doch blieb mir der Bissen im Halse stecken, als dieser nebenbei ins Gespräch einfließen ließ: „Der von mir sehr verehrte Herr Dr. Joseph Göbbels.“

Mit diesem ganzen Teil der Familie wollte ich von nun an nie wieder etwas in meinem Leben zu tun haben.

Mein Vater war ein starker Mann und ein angesehener Gastwirt in Frankfurt am Main, der ausgehend von seinen Kriegserfahrungen Schumacher und Ollenhauer wählte. Er kämpfte noch bis in die letzten Kriegstage des Jahres 1945 und verlor dort ein Bein. Bis „zum letzten Tropfen Blut“ ließen die nationalsozialistischen Mörder Deutschland und das deutsche Volk ausbluten. Die Tragik der deutschen Soldaten einschließlich meines Vaters ist die Erkenntnis, dass sie nicht für Deutschland kämpften, sondern dass sie lediglich Erfüllungsgehilfen von Verbrechern waren. Getäuscht, opferten sie ihr Leben, ihre Gesundheit, ihre besten Jahre.

Von diesen Verbrechern wurden die Deutschen sogar noch mit der irrigen Aussage verhöhnt, das deutsche Volk sei angesichts der Niederlage ihrer nicht würdig gewesen. Bei Wetterumschwüngen hatte mein Vater langanhaltende Phantomschmerzen, schweißgebadet hüpfte er auf dem Sessel auf und ab und schrie markerschütternd – wer diese Schreie im Ohr hat, der weiß, was Krieg bedeutet.

In unserer Gaststätte in Frankfurt-Bornheim Anfang der 60er Jahre gab es einen runden Stammtisch mit drei alten Männern, dem Juden Emmerich, genannt „Emma“ und seiner zwei nichtjüdischen Freunde. Dort saßen die drei alten Männer und es sah so aus, als säßen sie schon immer da und als hätte es die Zeit der Nazi-Herrschaft nie gegeben.

Familie Jakob aus Nierendorf

Dieses Glück der Wiederkehr in ihre deutsche Heimat hatte die Familie Jakob aus Grafschaft-Nierendorf nicht. Vielleicht hätten sie auch wieder mit ihren Nierendorfer Freunden zusammengesessen, so als wären die Jahre 1933-1945 mit den durch Hetze erzeugten kollektiven Wahnvorstellungen nur ein böser Albtraum gewesen.

Leider kam es anders. Heinrich Jakob und Emilie Jakob wurden mit ihren Kindern Siegfried, Walter und Leo in Konzentrationslagern ermordet – dort, wo der Tod industrialisiert wurde und selbst noch das Töten entmenschlicht wurde.

In einem vorhergehenden Zeitungsartikel zeigte Udo Klein Fotos der Familie Jakob aus unbeschwerten Tagen. Beim Anblick vor allem der Kinder empfinde ich nur Trauer, vor allem für die Kinder – ihr armen Kinder, was hat man euch nur angetan.

Und Schande wird über uns alle gebracht werden, wenn am 17. November 2018 erneut die „Verherrlicher“ der Mörder von Siegfried, Walter und Leo mit ihren braunen Parolen durch Remagen ziehen werden.

Wehret den Anfängen! Jetzt, denn später wird es zu spät sein!

Dieter Bornschlegl


Flyer Gegen das Vergessen (pdf)

Das Schicksal der Nierendorfer Familie Jakob (pdf)